Jede Generation braucht ihr Weltuntergangsszenario. Was in den 1970er-Jahren der saure Regen und in den 1980ern die Atomkatastrophe von Tschernobyl war, ist heute der Klimawandel. Verantwortlich dafür sind laut Klimaschützern der horrende CO2-Verbrauch von Industrie, Öl- und Gassektor, Automobil- und Reisebranche. Und damit die Welt nicht untergeht, versuchen schmutzige Unternehmen, ihre grüne und nachhaltige Seite zu entdecken. Druck bekommen sie dabei von Ratingagenturen, die die Nachhaltigkeitsbemühungen der Konzerne sezieren. Zu den größten und bekanntesten Agenturen gehören etwa Sustainalytics, ISS ESG und MSCI ESG, die darüber richten, was jetzt wirklich nachhaltig ist.
Die Welt der nachhaltigen Ratings hat einen Haken: Sie fallen für ein und dasselbe Unternehmen oft zu unterschiedlich aus. Das Problem: Es gibt keine einheitliche Betrachtung von ESG-Kriterien, also Umwelt, Soziales und Unternehmensführung, und dazu viele Ansätze von Nachhaltigkeit, etwa, durch die Risikobrille, den Fokus auf soziale und ethische Belange oder doch lieber Impact, Best in Class oder Engagement. So kann es je nach Herangehensweise sein, dass Flugzeughersteller, Nuklear- oder Erdölkonzerne „Sustainability Leaders“ sind.
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Ratings als Blackbox
Arne Klug, Vice President von MSCI ESG Research, begründet die Divergenz mit der fehlenden einheitlichen Definition von Nachhaltigkeit. „Atomkraft, Waffenproduktion, Umweltstandards – die Vorstellungen unterscheiden sich je nach Land und Akteur teilweise stark. Deshalb bewerten unsere Ratings, wie gut ein Unternehmen mit Risiken umgeht, die aus Nachhaltigkeitsthemen erwachsen.“ MSCI ESG verfolgt einen Best-in-Class-Ansatz. Bei Sustainalytics werden 20 potenzielle ESG-Faktoren neben Corporate Governance gescreent, ein Fokus ist auch auf Kontroversen gerichtet. „Das Problem sind fehlende qualitative und quantitative Kennzahlen und Daten von Unternehmen. Bei ESG sind wir erst im zweiten von neun Innings“, bemüht Simon MacMahon, Leiter des ESG Research bei Sustainalytics, einen Baseball-Vergleich.
Die Anstrengungen der Europäischen Union, die mit der EU-Taxonomie erst zwei von sechs Klimazielen ausgearbeitet hat, geht einigen zu langsam. „Wir haben ein Wirksamkeitsproblem und damit auch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wenn man die Nachhaltigkeit von Investitionen oder Krediten falsch misst und das Geld deshalb in die falsche Richtung fließt, ist der positive Beitrag dahin“, sagt Regina Schwegler, Geschäftsführerin der Schweizer Ratingagentur Inrate. Deren Flagshipprodukt ist das ESG Impact Rating, das die Wirkung von Produkten und Dienstleistungen auf Umwelt und Gesellschaft entlang des Produktzyklus misst.
Climate Fact
Welche Nachhaltigkeits-Siegel gibt es?
Notwendige Vielfalt
Nüchtern betrachtet, hat die Welt ESG noch nicht im Griff. „Wir müssen uns davon verabschieden, dass es eine Wahrheit gibt. Unterschiedliche Ergebnisse zu einzelnen Unternehmen sind bei 350 Einzelkriterien logisch. Die Vielfalt bei Ansätzen und Ratings ist wichtig. Wenn man Punkte wie Atomstrom und Kohle ausklammert, hat sich die EU auf sehr viele verständigt“, sagt Silke Stremlau, Vorständin der Hannoverschen Kassen, die auch im Sustainable-Beirat der deutschen Bundesregierung sitzt.
Akteure wie Reinhold Friesenbichler von der österreichischen Ratingagentur RFU halten die Vielfalt von Nachhaltigkeitsanalysen für legitim und notwendig, solange deklariert wird, was das jeweilige Grundverständnis von Nachhaltigkeit und ihr diesbezügliches Messziel ist: „Aufgrund seiner Komplexität gibt es kein verlässliches Rezept, um Fragestellungen im Themenfeld Nachhaltigkeit, Ethik und CSR mit allgemeiner Gültigkeit beantworten zu können. Das gilt auch für die EU-Taxonomie, die sich quasi amtliche Deutungshoheit zuschreibt.“
Zahlen & Fakten
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Finanzakteure betonen, wie wichtig es ist, Unternehmen in ihrer Transformation zu unterstützen. Dennis Hänsel von der DWS bringt einen wichtigen Punkt aufs Tapet: „Eine klimaneutrale Welt kann es nur geben, wenn wir in jene Unternehmen investieren, die sich in einem Transformationsprozess befinden. Das muss auch dem Regulator klar sein, und der muss zugesagte Investitionsausgaben für nachhaltige Strategien berücksichtigen. Bei vielen der dunkelgrünen Investments ist das Universum zu klein, und da lässt sich das Risiko nicht streuen. Es gilt nach wie vor: zuerst Risiko, dann Rendite und dann die Nachhaltigkeit.“ (von Ingrid Krawarik, Börsianer Grün Magazin, hier zur langen Version)